Dieter Piwernetz

* 1938

  • Dann kamen wir von dort in das Flüchtlingslager Riesa. Da war es aber dann schon kalt, es war schon im November. Von dort kam eine Einweisung nach Buttelstett bei Weimar. Also zogen wir, meine Mutter, meine Schwester und … Mein kleiner Bruder, der war bei der Vertreibung gestorben an Unterernährung, den hat meine Mutter leider nicht am Leben erhalten können. Ich erinnere mich an diesen kleinen weißen Sarg, wie der in fremder Erde nur mit unseren paar Personen in die Erde gesenkt wurde. Damals habe ich es als Kind wahrscheinlich gar nicht so registriert, aber heute muss ich noch manchmal weinen, wenn ich an dieses junge Leben denke, das ohne jede Erfüllung, ohne sich seiner Existenz bewusst zu werden schon wieder von dieser Erde gehen musste.

  • Ich habe Briefmarken gesammelt. Und damit verbindet sich eine nicht ganz gute Erinnerung. Ich kriegte die Briefmarkensammlung von meinem Onkel, der gefallen war. Wir haben immer zwei Gebiete gesammelt: Alt-Österreich, also Franz-Josef-Briefmarken, aber auch die Anfangsmarken aus der Tschechoslowakei gesammelt, vor allem die Luftpost-Marken, das waren schöne Briefmarken. Und wir haben unter den Kindern getauscht. Und ich habe auch mit ein paar solchen Jugendbekannten, tschechischen Jungen, getauscht. Und nach dem Krieg kamen sie wieder zum Tauschen. Sie kamen rein, haben mir die beiden Briefmarkenalben weggenommen, haben herumgeschrien und sind mit den Briefmarken fortgerannt. Recht gab´s da nicht. Aber das war eine Enttäuschung als Kind.

  • Mit der Vertreibung der Deutschen, der Sudetendeutschen, haben meine ich die Tschechen einen Teil ihrer Kultur vertrieben, einen Teil ihrer Geschichte vertrieben, einen Teil ihres wirtschaftlichen Erfolges vertrieben. Sie haben einen Teil von sich vertrieben.

  • Ich habe gar nichts eingepackt. Ich hatte ein Paar Hosen und ich hatte Hemd, und aus war´s. Denn wir konnten gar nicht glauben, dass das es eine endgültige Vertreibung wird. Wir konnten nicht glauben, dass das etwas für die Zukunft sein wird. Wir konnten nicht glauben, dass das eine dauerhafte Veränderung sein wird. Wir waren der Meinung, das ist jetzt eine vorübergehende Maßnahme und wir kommen ja zurück. Ich denke an meine Großmutter, die den Schlüssel von dem Schupfen auf dem Hof in Küchenbuffet reingelegt hat und sagte: „Wir kommen ja bald wieder zurück.“ Meine Mutter hat in der Küche und in dem Wohnzimmer geordnet, weil wir der Meinung waren, wir kommen wieder zurück. Dass das dauerhaft sein wird, wusste niemand, deswegen haben wir nichts mitgenommen. Wir hatten dann wenig Kleider, für meinen kleinen Bruder mit drei Monaten waren da ein Paar windeln, für uns war gar keine große Wäsche, nur was wir am Leibe hatten. Spielsachen haben wir keine mitgenommen. Ich erinnere mich, dass jeden Abend Wäsche gewaschen wurde in dem Bach. Seife hatten wir nicht, aber Wäsche wurde gewaschen. Es war die alte Wäsche, neue hatten wir nicht. Zwischendurch haben wir immer wieder etwas gekriegt, die Mutter von dem Bauer eine Schürzte oder einen Rock gekriegt und ich habe von da ein Hemd gekriegt, da hatten wir einmal ein Löffel gekriegt oder sonst etwas. Spielsachen? Nein, Spielsachen habe ich keine mitgenommen. Mir fällt ein – da kamen wir abends auf einem Bauernhof an, wir saßen in dem Hof, die Bauersleute waren recht freundlich, sie haben uns etwas zum Essen gegeben. Zu Spielen war nichts da, Kinder waren keine da. Aber im Hof stand ein großer Tränkstein, wo die Kühe daraus getrunken haben. Ich schaue darein, sehe im Tränkstein kein Fisch, unten ging aber ein Bach vorbei. Ich bin den Bach gegangen, habe ein Fisch gefangen, habe ihn dort eingesetzt und habe mir ein Aquarium gemacht. Das war etwas zum Spielen.

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    Weidenberg, SRN, 31.05.2019

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Mit der Vertreibung der Deutschen haben die Tschechen einen Teil von sich selbst vertrieben

Dieter Piwernetz in Weidenberg, 2019
Dieter Piwernetz in Weidenberg, 2019
zdroj: pamětník

Dieter Piwernetz wurde am 2. Februar 1938 in Gablonz (Jablonec) geboren, doch die früheste Kindheit und den zweiten Weltkrieg verbrachte er in der nahen Gemeinde Labau bei Pintschei (Huť u Pěnčína). Sein Vater Ernst führte dort einen Lebensmittelladen, wurde aber schon 1939 zur Wehrmacht einberufen, kehrte nach dem Krieg nicht nach Böhmen zurück, sondern traf die Familie erst nach der Vertreibung in Deutschland wieder. Der kleine Dieter spielte mit tschechischen Kindern und konnte Tschechisch – diese Kenntnisse unterdrückte er später in Folge der Vertreibung in sich. Anfang Juli 1945 kamen tschechische „Partisanen“ nach Labau. Die Mutter, Großmutter, der kleine Dieter, seine zwei Jahre jüngere Schwester und der dreimonatige Bruder mussten innerhalb einer halben Stunde das Haus verlassen, sonst drohte ihnen die Erschießung. Es erwartete sie die nichtorganisierte Vertreibung. Aus Labau brachte ein Lastwagen die Familie nach Gablonz, von dort fuhr sie mit dem Zug nach Reichenberg (Liberec) und ab der Grenze lief sie zu Fuß. Nach einer qualvollen Reise lebten sie paar Monate bei Bauern in Buttelstedt bei Weimar. Im Verlauf der Vertreibung starb Dieters wenige Monate alter Bruder an Unterernährung. 1946 erhielt die Familie die Erlaubnis zur Ausreise nach Bayern. Dort beteiligte sich die Familie an der Gründung einer Kolonie von Gablonzer Glasbläsern in Weidenberg. Entgegen Dieters Studienambitionen nahm der Vater ihn mit fünfzehn Jahren aus der Schule, damit er Schleifer wurde. Gegen Ende der Fünfziger Jahre durfte Dieter das Gymnasium beenden. Dr. Dieter Piwernetz wurde am Ende ein anerkannter Fachmann für die Biologie von Fischen.