Professor, Dr. Thomas Wieske

* 1958

  • „Dann bekam ich die Urkunde und dann sagte er: ´In einer Stunde holt Sie der Anwalt ab.´ Und dann war klar, dass ich entlassen bin, in dem Moment war ich entlassen aus der DDR-Staatsbürgerschaft. Ich bekam dann noch Entlassungsschein und dann hat mich der Anwalt aus der Kanzlei Vogel im Schritttempo ohne aufzuhalten über den Übergang Invalidenstraße nach West-Berlin gebracht. Mit dem Auto. Er holte mich mit seinem Auto ab und wir fuhren dort in der Autospur. Da wurden dann überhaupt nicht mehr Dokumente kontrolliert, ob ich es sei, sondern hier kannten die Leute an der Grenzkontrolle das Auto, wie auch den Anwalt. Und er fuhr dann langsam durch. Ob salutiert wurde, weiß ich jetzt nicht. Und dann war ich im Westen. Also so schnell kann es dann wirklich gehen, der Übergang von einem System ins andere. Interessanterweise bin ich auch, was ja der ganzen DDR-Idee wiedersprach, sogar nach West-Berlin entlassen worden. Es war wirklich auf den letzten Moment. Ich habe keine Stunde Haft geschenkt bekommen, ich wäre sonst am 8. Februar am Bahnhof von Cottbus gestanden, um dann nach Hause zu fahren.“

  • "Ich habe nichts in die Hand bekommen. Meine Akte gingen ja weiter und die Information, dass ich gefangen genommen wurde, die hat die tschechoslowakische Seite an den DDR Staatssicherheitsdienst mitgeteilt. Meine Daten wurden weitergegeben und so wurde auch das Flugzeug und Transport weitergegeben. Insgesamt wurde sehr wenig gesagt. Die Frage ist, was hat die Tschechoslowakei, wie auch Ungarn, für die Festnahme dieser DDR-Bürger wohl bekommen. Es ist ja ziemlicher Aufwand gewesen, für die tschechoslowakische Seite. Zehn, vierzehn Tage Kost und Logis zu stellen, der ganze bürokratische Aufwand, und das für die Bürger eines fremden Staates. Eigentlich konnte es der tschechoslowakischen Regierung egal sein. Aber es war wahrscheinlich eben nicht. Wir sehen ja, dass der Zusammenbruch des Sowjet- Imperiums und des Warschauer Vertrages in dem Moment anfängt, als Ungarn von dieser gemeinsamen Linie ´wir fangen die DR-Flüchtlinge auf´ abweicht und sie durchließ. Und das nächste Loch ist dann auch die Tschechoslowakei gewesen und die Prager Botschaft, irgendwann hat die tschechoslowakische Seite gesagt, wir lassen sie jetzt einfach durch. Und damit brach das System für die DDR dann zusammen."

  • "Später hörte ich, dass die DDR, der Staatssicherheitsdienst, eigentlich über die Jahre mit Flugzeugen die Fluchtlinge geholt hat aus Sofia, aus Bukarest, aus Budapest, aus Prag. Er hat sie eingesammelt und in dieser Form transportiert. Bei uns kam noch etwas hinzu. Die Blenden waren heruntergezogen, wir warteten auf den Start, aber ich konnte durch meine Blende sehen, dass kurz nachdem wir einstiegen, ein großer Funtionärfahrzeug, Tschaika oder ZiL, mit einer DDR- und einer tschechischen Flagge zugefahren war und dass sich dort ein tschechischer und ein DDR-Politiker umarmte, zwei drei Leute noch dabei. Und das heißt, dass im vorderen Bereich ein Politiker saß, also das Flugzeug wurde quasi als Regierungsmaschine genutzt, und im hinteren Bereich wurden dann die Flüchtlinge nach Hause gebracht. Nach gut anderthalb Stunden waren wir dann in Schönefeld. "

  • „Ich war in Budweis am 9. festgenommen, das war am Sonnabend, und wir sind am Mittwoch, es konnte auch Dienstag gewesen sein, in einen Bus gesetzt worden. Das war ein Gefangenentransport, ein ganz normaler Bus, wo wir rausgucken konnten. Und da saßen vorne und hinten Wachen mit Maschinenpistolen und wir als Gefangene waren zusammengeschlossen mit Handschellen. Der Bus war relativ voll, vierzig bis fünfzig Leute, und davon waren ungefähr zehn Menschen aus der DDR. Vierzig Leute, davon dreißig Tschechoslowaken und an die zehn DDR-Bürger. Dieser Bus fuhr von Budweis nach Prag und in das Gefängnis Prag-Pankratz. Bekanntes Gefängnis, Egon Erwin Kisch schreibt viel darüber. Österreichisches Gefängnis, dann auch von den Nazis genutzt, usw. Und da kamen die DDR-Bürger in einen extra Trakt. Dort waren wir an die dreißig Leute, die an diesem Wochenende Fluchtversuch gemacht hatten. Die kamen dann natürlich auch aus der Gegend von Bratislava und von allen Ecken.“

  • "Ich bin mit dem Zug um sechs Uhr oder sechs Uhr dreißig losgefahren. Man braucht ungefähr eine Stunde um von Budweis nach Kaplice zu kommen, durch diverse Stationen. Ich war noch etwas verschlafen. Und zwei, drei Orte vor Kaplice gehen dann zwei tschechische Soldaten, etwas älter als ich, mit Maschinenpistole vom Bahnreisenden zum Bahnreisenden. Und die Leute ziehen ihre Ausweise vor, zeigen sie, und dann gehen sie wieder zum Nächsten. Ganz unauffällig. Und dann stellen sie sich vor mir auf. Ich wusste – zwei Uniformierte und ich fahre ins Grenzgebiet, oho! In der DDR hätte ich damit auf jeden Fall gerechnet, dass man irgendwann kontrolliert wird und dass das auch unglücklich ist. Aber für Kaplice habe ich damit nicht gerechnet, nicht gedacht, dass das passiert. Sie standen vor mir und wollten ein Ausweis sehen. Ich habe mein DDR Personalausweis gezeigt. Ich nehme an, dass diese Grenzsoldaten einen Hinweis hatten, wenn irgendwelche junge dubiöse Leute aus der DDR da sind, dann guckt man halt nach. Das ist etwas Besonderes. Die meisten Leute, die da fuhren, waren Bewohner von Kaplice, die hatten ein Pass, die kannte man. Und dann wollten sie wissen, was mache ich in Kaplice und ich habe erstmals so getan, als ob ich gar nichts verstehe. Eine nette Mitreisende hat aber gleich übersetzt, und hat gefragt, was ich den in Kaplice vor hätte. Und dann sagte ich, ich wollte jemanden besuchen. Ich hatte keine Ahnung, wen, das hätte man vorbereiten können. Ich habe mir den Namen Josef Sprittel ausgedacht. Man hat mir gesagt, den würde man nicht kennen. Und die übersetzende Dame hat gesagt, jetzt würde sich einer der Soldaten zu mir hinsetzen und das würde man überprüfen und dann sei ja alles Bestens. In dem Moment war mit natürlich klar, es wurde jetzt wirklich eine ganz große Überraschung gewesen, wenn es Josef Sprittel in Kaplice gäbe. Mir war klar, das ist jetzt sehr unglücklich."

  • „Das habe ich eigentlich relativ früh wahrgenommen, schon als ganz kleines Kind. Damit, dass mir meine Eltern beibrachten: ´Es gibt Dinge, die hörst du und siehst du zu Hause, aber wenn du aus dem Haus heraustrittst, dann darfst du sie nicht erwähnen. ´ Zum Beispiel das Sehen des Westfernsehens. In der DDR war glaube ich am 90% des Gebiets das Westfernsehen empfangbar. Drei Viertel der DDR-Bürger haben auch Westfernsehen gesehen, jeden Abend um neunzehn, zwanzig Uhr gingen alle quasi mental in den Westen. Aber davon sprach man nicht. Und das haben sie mir auch zu Hause gesagt, dass ich nicht erwähnen darf, dass ich Westnachrichten sehe. Diese Doppelwürdigkeit. Auch in der Schule. Nicht nur ich, sondern auch die anderen, machten Aussagen, an die man nicht glaubte. Es gab einfach Phrasen, die konnte man als Wortbeiträge, oder Worthülsen, oder Satzbausteine nehmen, und die präsentierte man und dann hatte man eigentlich seine Ruhe. Also, wenn ich sagte: ´Die Freundschaft zur Sowjetunion ist ein Grund unseres Sieges´, dann war man erstmal ´auf der richtigen Seite´. Es konnte niemand etwas dagegen sagen und irgendwie passte das immer schon.“

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    Praha, 05.05.2021

    (audio)
    délka: 01:55:27
    nahrávka pořízena v rámci projektu From Germany to Germany through Czechoslovakia
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Die Tschechoslowakei hielt ostdeutsche Flüchtlinge auf und schickte sie in die DDR zurück, so wurde das sowjetische Imperium vor seinem Zusammensturz bewahrt

Thomas Wieske im Gefangnis in der DDR
Thomas Wieske im Gefangnis in der DDR
zdroj: pamětník

Thomas Wieske wurde am 24. Februar 1958 in der Stadt Dessau in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik geboren. Die allgegenwärtige Militarisierung der ostdeutschen Gesellschaft führte den Heranwachsenden Thomas zu Zweifeln an dem aufgetischten sozialistischen Weg seines Geburtslandes. Schon als Dreizehnjähriger musste er sich zusammen mit anderen Mitschülern zu einem dreijährigen Wehrdienst verpflichten, welcher für zukünftige Offiziere bestimmt war. Vor dem Einstieg in den Wehrdienst entschied er sich im Oktober 1976, über die Tschechoslowakei und Österreich in den Westen zu flüchten. Die tschechoslowakischen Grenzbeamten hielten ihn bereits im Zug vor dem südböhmischen Kaplitz auf, seinen Fluchtversuch konnte er also nicht realisieren. Nach einem kurzen Aufenthalt in Gefängnissen in Budweis und in Prag Pankrác wurde er mit einem ostdeutschen Regierungsflugzeug nach Berlin überführt und wanderte von da in die Strafanstalt in Halle und nach seiner Verurteilung zu einundhalb Jahren Haft nach Cottbus. Nach Ablauf der gesamten Haftstrafe wurde er wie viele andere politisch Gefangene durch Westdeutschland für Valuten „abgekauft“. Im Westen studierte er und ist heute ein anerkannter Fachmann für Logistikrecht. Im Mai 2021 nahm er in Böhmisch Krumau an einer Rehabilitation wegen seiner Festnahme im Jahr 1976 teil.