Helmut Schmidt

* 1943

  • "Von meiner Familie habe ich darüber nichts erfahren, außer dass wir dann tatsächlich nach den allgemeinen Befehlen am 19. Juni aufgefordert worden sind Bӧhmisch Kamnitz zu verlassen und vor der Stadt in Richtung heutige Janská, früher Johnsbach am Meierhofteich zu versammeln. Und dann nach sehr, sehr detailierten Vorschriften die Wohnung verlassen mussten, das Gepäck beschrieben war, und was erlaubt war, keine Wertgegenstände. All dies habe ich erst nach dem Krieg durch eigene Recherchen erfahren. In der Familie war das gar kein Thema. Wir waren eben mit Handgepäck vertrieben und das war sehr schwer zu ertragen, denn meine Mutter war im sechsten, siebten Monat Schwangerschaft und sie musste dann zu Fuss in Richtung Hinterhermsdorf gehen. Das sind so rund 15, 16 km bergauf, bergab und das war wohl sehr beschwerlich für sie. Aber sie hat es nie erwähnt, sondern ich weiß nur, dass mein Bruder am 4. August in Ratten bei den Diakonisten geboren worden ist. Ratten ist so 30 km von Děčín entfernt. Das heißt auf dem Vertreibungsweg ist mein Bruder geboren worden."

  • "Er wurde zunächst in kamnitzer Gefängnis, in seinen eigenen Gefängnis, in einer Einzelzelle, in der dann so zwanzig Leute waren, ein, zwei Nächte oder Tage gefangen gehalten. Und dann mit den übrigen Gefangenen nach Rabštejn transportiert auf dem Lastwagen und zwar am Anfang Juni, ich glaube am 4. Juni. Und er war also dort schon als dann mit weiteren Transporten z.B. aus Děčín deutsche oder auch andere Staatsangehӧrige z.B. aus Ӧsterreich oder aus Ungarn nach Rabštejn trasportiert worden sind. Im Rabštejn war die Zeit bis zum 6. Juni, dass er da in einem ehemaligen KZ untergebracht war. Und dann am 6. Juni kam ein neuer Transport, wie ich schon erwähnt habe und in diesem Trasport war ein Deutscher Namens Helmut Khun, der schon im Gefängnis in Děčín den tschechischen oder tscheslovakischen Wächtern versprochen hatte ihnen zu zeigen, was er angeblich in einem deutschen KZ, nämlich in Ravensbrück erlebt hat, oder sogar Buchenwald. Das war erlogen, aber immerhin haben die tschechischen Wachgruppen ihm geglaubt und er hat tatsächlich schon in Děčín im Gefängnis begonnen Deutsche zu prügeln und zu quälen. Und er wurde aus dieser Aktion heraus auch gleich vorgesehen als Kapo, also als der für deutsche Gefangenen verantwortliche Mann im KZ."

  • "Das war das erste Geschwister, dieser Bruder,. Sie sie kӧnnen sich dasvielleicht nicht vorstellen, aber in diesen Zeiten war es für ein Baby fast unmӧglich zu überleben. Und er ist dann auch in Hessberg verstorben, schon am 10. Oktober. Die Daten habe ich von meiner Mutter, ich habe nur in der Erinnerung aus Erzählungen, dass ich gesagt haben soll: Nun liegt der Wolfgang da unten in der Grube und kann nicht mehr heraus. Das war also schon 1945, in Oktober."

  • "Was mich an Bӧhmisch Kamnitz interessiert, ist erstens der Hintergrund meiner sozialen Existenz, sozusagen. Ich habe gelernt, dass ich dort mit Bӧhmisch Kamnitz viel verbinde, was mir von meinen Grosseltern vermittelt worden ist. Auch dieser Humanismus, von dem mein Grossvater selbst nach dem Aufenthalt in Rabstein gesprochen hat, der von Masaryk ausgegangen ist. Auch dieses Zusammenleben in einer Vielvӧlkermonarchie, das hat alles irgendwie doch meinen Leben geprägt, vor allem auch die Tolleranz, die mir mein Grossvater vermittelt hat. Ich weiss aber, dass die Vertreibung auch dazu geführt hat, dass ich nirgendwo so recht, wie man so schӧn sagt, verankert bin. Das ist ein Nachteil. Der mir erst bewusst geworden ist, als ich gemerkt habe, dass ich nie in einer Stadt irgendwo so richtig angekommen bin. Dazu gehӧrt auch, dass man Verwandte, Bekannte hat, dass man die Geschichte kennt, dass man engagiert ist. Das alles fehlt mir. "

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    Praha, 31.08.2021

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Nach der Vertreibung konnte ich nirgendwo mehr neue Wurzeln fassen, mir fehlt das Gefühl von Heimat

Helmut Schmidt, Praha, 2021
Helmut Schmidt, Praha, 2021
zdroj: pamětník

Helmut Schmidt wurde am 3. Juni 1943 in Böhmisch Kamnitz (Česká Kamenince) geboren. Seine Eltern heißen Ingeborg und Maximilian Schmidt. Der Opa Uhman war ab dem Jahr 1943 der Bürgermeister von Böhmisch Kamnitz, wo zu dieser Zeit die meisten Bewohner deutschen Ursprungs waren. Nach dem Krieg wurde er aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, er war im ehemaligen KZ in Rabstein interniert und wurde im Jahr 1948 dann freigelassen. Sein Vater war Maschineningenieur, er rückte zur Wehrmacht ein und fiel am Ende des Krieges in Berlin. Helmut wurde zusammen mit seiner Mutter, der Großmutter und der Tante im Juni 1945 in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands vertrieben. Die Mutter brachte während der sogenannten wilden Vertreibung Helmuts Bruder zur Welt, doch dieser konnte in den schlechten Bedingungen leider nur ein paar Wochen überleben. Die Familie überquerte illegal die amerikanische Besatzungszone und der Zeitzeuge machte einen Abschluss auf einem Gymnasium in Düsseldorf. In Berlin studierte er an der elektrotechnischen Fakultät. Im Jahr 1968 bemühte er sich darum, eine öffentliche Diskussion zu Fragen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg zu erwecken. Heute lebt er in Berlin, mit seiner zweiten Ehefrau, einer Tochter und einem Sohn. Er hat ein starkes Verhältnis zu Böhmisch Kamnitz, wo er Treffen für die vertriebenen Deutschen organisiert. Er initiiert die Errichtung von Gedenkorten – im sächsischen Hinterhermsdorf, aber auch im ehemaligen KZ Rabstein nähe Kamnitz.