In der DDR durften wir über die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei nicht sprechen
Annelies Hennig, gebore Weigelt, wurde am 2. Oktober 1939 in Gablonz (Jablonec) geboren und verbrachte ihre früheste Kindheit in Reichenberg (Liberec). Die Mutter Hedwig kam aus einer Glaserfamilie aus Gablonz, der Vater Richard arbeitete bei der Bahn. Nach dem Krieg regierte in Reichenberg Chaos und Gewalt. Großmutter Anna beging am 14. Mai 1945 Selbstmord. Kurz darauf musste der Rest der Familie das Haus verlassen und wurde im Sammellager in Reichenberg auf dem ehemaligen Sportgelände interniert. Nach einigen Wochen wurden sie in der Nacht in offenen Güterwaggons nach Zittau überführt. Der Vater sollte ursprünglich in Tschechien bleiben, aber nachdem die Mutter einen Nervenzusammenbruch hatte, durfte die Familie zusammenbleiben. Der Vater fand nach einer Typhus-Erkrankung Arbeit bei der Bahn in Weimar, wohin die Familie umzug. Der Nervenzustand der Mutter verbesserte sich nicht, weshalb die Kinder vier- oder sogar fünfmal in Kinderheimen und in Klöstern bei Nonnen untergebracht waren. Die Großeltern und Geschwister der Eltern lebten im westdeutschen Bayreuth, wo Annelies sie anfangs besuchte und noch 1955 auf der Beerdigung ihres Großvaters war, doch im Westen zu bleiben traute sie sich nicht. Nach der Schule ging sie zur Lehre in die Jenaer Optikwerke Carl Zeiss und heiratete mit achtzehn Jahren den „politisch unzuverlässigen“ Artisten und Varieté-Künstler Gerolf Hennig. Sie traten auch im Ausland auf, durften allerdings nur ins sozialistische. Eine ihrer drei Töchter heiratete einen Polen, mit sie nach West-Berlin zog. Frau Annelies traf sich in der DDR mit keinen Sudetendeutschen und sprach selbst mit ihren eigenen Kindern nicht über die Vertreibung ihrer Familie aus der Tschechoslowakei. Das Thema war in der DDR tabu. Im Sommer 1989 bekam das Ehepaar Hennig nach Jahren vergeblicher Anträge die Erlaubnis in den Westen auszureisen. Nach einer Aufführung in Nürnberg entschieden sie sich nach entscheidenen Wendepunkten in der BRD zu bleiben und ließen sich im bayerischen Pegnitz nieder. Auch ihre jüngste Tochter Katrin war währenddessen mit Mann und Kind in den Westen gegangen, die mit Hunderten anderen Mitbürgern zusammen über Prag geflohen war, wo sie einige Zeit im Gebäude der westdeutschen Botschaft verbrachte.