“Als ich jung war hat mich diese alte Heimat so gut wie nicht interessiert. Ich hatte damit nichts zu tun, ich war sechs Jahre alt, als wir daraus sind und meine Interessen waren da ganz woanders und wenn Besuch gekommen ist und Verwandte und die Nachbarn, dann als wir in Bayern waren und erzählt haben von der Heimat und wie das war, hab ich gedacht was haben die alle immer mit der Heimat, wir sind jetzt hier. Was mit den Leuten los war habe ich damals nicht verstanden.
Jetzt im Alter kriege ich ein Gefühl dafür.
Aber das hat sich Schlagartig geändert, vor 20 Jahren hat`s mich plötzlich interessiert. Ich weiß nicht warum, aber ich habe gesagt ich will das wissen.
Ich habe meinen Rucksack gepackt, Wanderschuhe angezogen, bin nach Nejdek gefahren. Bin spät nachmittags angekommen, bin auf den Marktplatz gegangen und habe einen Mann gefragt, wo ich zur schönen Aussicht komme? Das ist ein Wirtshaus, so ein Tanzhaus auf halber Höhe nach (..) rauf. Da hat er mir das erklärt, ich bin da rauf, ich wusste nicht ob ich da übernachten kann. Ich bin Alpinist ich finde mich überall zurecht, auch nachts im Freien. Und ich habe ein Zimmer bekommen. Am nächsten Tag bin ich zum Tellerberg gegangen, irgendwie habe ich mich durchgeschlagen durch den Wald. Später habe ich gewusst, dass die früher auf der Bahnlinie gelaufen sind, das habe ich dann auch Mal gemacht. Wenn ein Zug kommt muss man halt runtergehen, aber der hubt vorher. Ich wusste ungefähr wo dieses Haus stand, knapp unterhalb der Bahnlilie. Und es ist ein dichter Wald. Die Tschechen haben über diese Wüstungen Wald gepflanzt, eben um die Erinnerung auszulöschen. Es sind elf Wüstungen dieser Art im Bezirk Nejdek. Und es sind insgesamt 1100 solcher Wüstungen im Sudetenland die ausgelöscht worden sind.
Also ich zwäng mich in diesen Wald hinein, dichter, dichter Wald. Und es ging gerade in Richtung dieses Fliesenhanges. Von dem ich vorhin erzählt hatte, wo ich mit drei Jahren gestanden bin und wahnsinnige Angst hatte darunterzufallen. Und es ist keine Wiese mehr, es ist überhaupt nichts mehr, nur Wald, dichtester Wald. Und ich zwäng mich darein und steh plötzlich vor den Grundmauern dieses Hauses. Ich denk mich trifft der Schlag, ich denk mich trifft der Blitz. Ich steh vor diesen Mauern, da ist die Geschichte plötzlich wieder da nachdem sie 60 Jahre versteckt war. Man kann Geschichte nicht verstecken. Und ich konnte sehr schnell unterscheiden, das war der Wohnbereich, das war die Küche, da war der Stall und da ist der Misthaufen. Der Misthaufen ist im Hang und der konnte nicht zerstört werden, der hat 15cm dicke Betonwände. Und er funktioniert heute noch, er ist zwar dreiviertel voll mit altem Laub und Ästen, der Abfluss funktioniert noch, ich habe ihn freigelegt. Also man könnte da wieder Landwirtschaft machen. Wenn das Haus verkauft würde.
Ich überfüllt und überschwemmt von einer Gefühlswallung, wie ich sie noch nie erlebt hab. Da drin ist mein Vater entstanden und auf die Welt gekommen und diese 13 Kinder. Und alle meine Tanten, das waren vor allem nur Mädchen. Ich fass das nicht. Und dann habe ich mir überlegt, wo sind denn die Steinblöcke von den Wänden, die müssen ja irgendwo sein. Und da bin ich den Hang hinunter, auch im dichten Wald. Ich musste fast klettern. Unten an der Talzone im Sumpf überwuchert von Kraut und Baumwurzeln, liegen die Steinblöcke von diesem Haus. Und so wie man heute (Gebäude) wieder aufbaut aus den Trümmern, könnte man aus diesen Trümmern da unten dieses Haus wiederaufbauen. Es ist noch alles da, bis auf die Holzsachen.
Das war ein gewaltiges Erlebnis, das habe ich so nicht erwartet. Und am nächsten Tag war ich auf dem Friedhof, ich bin da durchgelaufen, ohne etwas zu suchen. Ich habe nicht beachtet, dass es da noch deutsche Gräber gibt, aber es gibt viele deutsche Gräber, auch von damals noch. Und die sind alle gut erhalten. Ich habe noch nicht herausgefunden wie die erhalten werden und warum die erhalten werden, wer tut das? Die Stadtverwaltung, Angehörige, vielleicht sudetendeutsche die dort geblieben sind in irgendeiner Weise. Und plötzlich steh ich vor dem Grab meiner Großeltern von Tellerer, das habe ich überhaupt nicht erwartet. Und da hatte ich wieder einen solchen Gefühlsüberschellung, Gefühlswallungen, wie auf dem Tellerer am Tag vorher. Und da hatte ich zum ersten Mal ein Gefühl von Heimat. Ich hab mein ganzes Leben nie ein Gefühl von Heimat gehabt. Ich bin Heimatlos, ein Strolch. Es ist kein angenehmes Gefühl, ich hab es kultiviert der einsame Wolf, der dann in Berlin durch die Kneipen zieht. Macht sich gut, aber innerlich ist eine Leerstelle. Und als ich vor diesem Grab stand, hatte ich das Gefühl, diese Leerstelle ist jetzt gefüllt. Hier bin ich Zuhause, hier gehör ich hin.“