Helmut Kopetzky

* 1940

  • „Je näher ich den Menschen komme, umso mehr verstehe ich sie auch. Ich habe irgendwo im Buch den Satz: Feinde haben keine Gesichter. Meine Mutter hat sich stur geweigert, um hierher nach Šumperk zu kommen, um eventuell grad diese Leute zu besuchen, die bei uns wohnen, die wollte einfach die Gesichter nicht sehen, das das lebende Menschen sind. Das ist eine Herausforderung. Man kann auf Entfernung wunderbar abträglich über jemanden reden, die haben uns das Haus gestohlen usw., aber in dem Moment, wo ich sie sehe, ist das etwas anderes.“

  • „Viele Menschen wurden eigentlich nur sehr ungern aufgenommen, die konnten sich nicht dagegen wehren, das haben die Amerikaner so entschieden, das war die US-Zone, die haben geschaut, dass alle untergebracht werden, aber die Menschen haben es natürlich nicht ganz gern gemacht. In unserem Fall war es eine richtige christliche Familie. Ich war skeptisch gegenüber Christentum, das nur aus Gewohnheiten besteht, aber die haben das wirklich gelebt, diese Leute. Die haben es uns auf dem Dachboden so schön wie möglich gemacht, das war wirklich nur ein nach oben offener Dachboden, also man sah die Dachziegeln, und darunter zwei enge Stauräume. Da lebten wir 6 Jahre lang – meine Mutter, meine Grosseltern und ich. Da kann man sich vorstellen, dass es auch zu Streiten kam, vor allem wegen meiner Erziehung, da wollte jeder mitreden.“

  • „Auch einer aus der Familie meiner Frau, der Vater, war Schulleiter im Tschechischen und wurde das dann auch in Hessen, der hatte es geschafft, eine Geige mitzubringen. Es war eine Manufakturgeige, aber die böhmischen Geiegenbauer waren ja berühmt, viele haben sich dann niedergelassen in Westdeutschland. Und ich habe Geige gelernt und ich habe heute noch diese alte Geige aus Mähren und spiele manchmal damit. Das ist erstaunlicherweise mitgekommen. Sonst wurden meistens alle Wertgegenstände weggenommen. Ich glaube, die haben auf Musikinstrumente nicht so einen Wert gelegt, sondern auf Gold und Silber. Das wurde schon in Schönberg aussortiert, das erzählen alle auch. Das ist so in solchen Fällen, da ist man eigentlich machtlos.“

  • „Meine erste eigene Erinnerung ist: Ich sitze während der Zugfahrt auf einem, wie wir immer gesagt haben, Scheisstopf, da hat man mich draufgesetzt, und ringsum sassen die Erwachsenen hoch aufgebaut auf ihren Bündeln und Koffern, wie in einem Amphitheater und guckten herunter auf mich, der am Tag seinen Geschäft verrichtet hat. Da ich noch so klein war, konnte man denken, das war egal, aber das war nicht egal. Ich fand es sehr, sehr peinlich. Die Erwachsenen gingen auf die Toilette an Stationen, die noch intakt waren, auf deutscher Seite vom Krieg noch etwas veschont, da waren so provisorische Latrinen gebaut worden, es waren ganze Strassen, denn in einem Zug waren es 1200 Menschen. Das war alles von den Amerikanern festgelegt – 1200 Menschen in einem Transport, so und so viele in einem Wagon. Insgesamt waren es glaube ich 1,5 tausend Eisenbahnzüge, die in diesem Jahr von Ost nach West gerollt sind. Dort waren also diese Latrinen, das waren nur diese Holzwände, da konnte mein reingucken, da schämten sich alle, da die meisten Deutschen aus dieser Gegend eben nicht aus den einfachen Verhältnissen stammten, es waren dort Leute, die zu Hause ein tolles Badezimmer hatten, auch sonst einen ziemlichen Komfort, und die hockten dann da, aber das war die einzige Möglichkeit.“

  • Celé nahrávky
  • 1

    Praha, 25.05.2024

    (audio)
    délka: 02:04:22
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Man sagt, Feinde haben keine Gesichter. Aber wenn ich diese Menschen sehe, ist das etwas ganz anderes...

Helmut Kopetzky, Prag, 2024
Helmut Kopetzky, Prag, 2024
zdroj: Post Bellum

Helmut Kopetzky wurde am 4. September 1940 in der nordmährischen Stadt Mährisch Schönberg / Šumperk geboren, in der die deutschsprachige Bevölkerung zu dieser Zeit vorherrschte. Sowohl sein eigener Vater als auch sein Stiefvater fielen im Zweiten Weltkrieg, woraufhin er ein Jahr lang mit seiner Mutter und seinen Großeltern auf dem Dachboden eines Hauses in einem Vorort von Šumperk lebte, bevor er im August 1946 nach Fulda in Hessen deportiert wurde. Helmut Kopetzky verbrachte seine Kindheit und Jugend in Fulda, absolvierte dort das Gymnasium und ging nach dem Abitur 1960 zum Studium nach Berlin. Das Studium der Theaterwissenschaften und der Publizistik schloss er nicht ab, sondern arbeitete kontinuierlich als Reporter für eine Fuldaer Lokalzeitung. Er wurde Redakteur bei der Berliner Zeitung „Der Abend“ und arbeitete auch in Marokko, Israel und Griechenland. Später arbeitete er für einen Berliner Radiosender und war auch als freier Autor und Regisseur bei Rundfunk und Fernsehen tätig. Als Dokumentarfilmer arbeitete er im spezifischen Radio-Genre des Features, für das er bekannt wurde. 1983 war er Mitbegründer der Veranstaltung „Journalisten warnen vor dem Atomkrieg“. Er arbeitete auch eng mit seiner Frau Heidrun zusammen, die er 1975 heiratete. Für seine journalistische Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, 2008 erhielt er den Axel-Eggerbrecht-Preis für sein Lebenswerk in Leipzig. Er hat mehrere Bücher geschrieben, darunter „Objektive Lügen - Subjektive Wahrheiten“ und „Ich war ein Sudetendeutscher“. Das letztgenannte Buch wurde in tschechischer Übersetzung auf der Buchmesse Svět knihy 2024 vorgestellt.