Als Neunjähriger musste ich Massengräber schaufeln, aber den heutigen Generationen gebe ich dafür keine Schuld
Rudolf Hüttner wurde am 1. Januar 1937 in einer deutschen Drogeristenfamilie im westböhmischen Mies (Stříbro) geboren. 1938 ersteigerte der Vater das Haus der jüdischen Familie Rosenberg im Stadtzentrum, wohin er sein Geschäft verlegte. Dieses führte aber im Krieg wegen des Kriegseinsatzes des Vaters meist die Mutter, selbst Drogeristin. In seiner Kindheit konnte Rudolf gar kein Tschechisch, lernte erst während der Vertreibung einige Worte. Nach dem Krieg versorgte die Drogerie die amerikanischen Besatzer im benachbarten Bayern mit Fotopapier, im Oktober 1945 musste die Familie Mies aber verlassen und Rudolf sich von vielen Spielsachen verabschieden. Die Familie durchlief nach einander die Sammellager in Wlaschim (Vlašim), Bistritz (Bystřice) und Moderschan (Modřany), verrichtete auch Zwangsarbeit bei tschechischen Bauern, obwohl der Vater noch unter einer schweren Kriegsverletzung litt. Desto fleißiger mussten die Kinder arbeiten. Die schlechtesten Bedingungen herrschten wahrscheinlich im Bistritzer Lager, wo der Hunger den Jungen zu Ausflügen zum Sauerampfer zwang, der an den Rändern des Lagers wuchs, und wo ihn nachts das Geheule von vermutlich gefolterten Mitgefangenen aus dem Schlaf weckte. Der neunjährige Rudolf musste in Bistritz auch Massengräber für die Leichen von Deutschen schaufeln und dabei zusehen, wie die Aufseher ihnen die Goldzähne raushauten. Von der Zwangsarbeit beim Bauern erzählt er davon, wie tschechische Kinder auf ihn als Deutschen Schneebälle mit versteckten Steinen schmissen. Er erinnert sich auch, wie er bei den tschechischen Bauern zur Schule gehen musste, aber nichts lernte, weil er kein Tschechisch konnte. Nach der Vertreibung nach Deutschland im Mai 1946 bekam Rudi im Lager Wiesau das erste ordentliche Essen nach langen Jahren – Kartoffelsuppe. Die Anfänge in Deutschland waren für die Familie mühsam, die Umgebung nahm sie nicht an und sie mussten sich mit selbstgemachtem Weihnachtsschmuck und kleinen Drogerieartikeln durchbringen. Erst nach Jahren gelang es dem Vater in Bamberg erneut eine Drogerie zu eröffnen, die Rudolf 1974 von ihm übernahm und bis 2000 führte. Mit einer aus Polen vertriebenen Frau gründete er eine Familie und den Geburtsort Mies besuchte er wiederholt seit 1986. Er bedauert, dass die heutige Generation der Tschechen die Möglichkeit zur Wiedergutmachung der Folgen der Vertreibung verschenkte, aber er gibt ihr keine Schuld. Mit seiner älteren Schwester half er in den Achtziger und Neunziger Jahren die vergessene Tradition der Marienfeiertage in ihrem Geburtsort wiederzubeleben.