"Ich hatte 1945 bereits im Mai ein Ereignis, das hat mich sehr bewegt. Für das Alter, wenn man sich das merkt, war es etwas Eingreifendes. Das war die kurze Zeit, als bei uns die Sowjets, die Russen da waren. Und eines Tages am Vormittag, mein Bruder und ich waren in der Küche mit der Oma, kamen zwei Soldaten mit dem Gewehr, und hatten meine Mutter verhaftet. Mein Bruder und ich standen vor dem Fenster, und mussten zusehen, wie meine Mutter mit den Gewehr am Rücken abgeführt wurde. So der Moment, obwohl wir das nicht begriffen haben, begleitete mich Jahre. Aber zum Glück kam meine Mutter abends nach dem Verhör wieder nach Hause. Der Grund, so sehe ich das heute vom Erzählen, war wahrscheinlich, weil meine Eltern in dieser Zeit für die Kriegsgefangenen einmal im Steinbruch hier in Warta und aber auch im Lager im Krondorf den Häftlingen Brot ohne Brotmarken gegeben haben. Und außerdem gab es im Ort einen Vorfall mit einem Kriegsgefangenen, und da suchten man die Schulden mit bei uns, weil wir dort Verbindungen hatten. Aber das hat sich dann wieder aufgeklärt und meine Mutti war wieder zu Hause."
"Es war ein Donnerstag, ein ganz heißer Tag, der 26.Juli. Meine Mutter hatte an diesem Tag Namenstag, die heilige Anna, mein Vater hat noch für sie einen Kuchen gebacken. Meine Oma stand im Laden, hatte kaum was an, nur die weiße Kittelschürze und die Unterwäsche. Und so ist sie auch mit uns mitgefahren. Sie hatte nicht mal Wwechselwäsche mit, weil sie daran nicht gedacht hat. Und plötzlich kamen – ein LKW ist auf den Grundstück gefahren, es war hier ein großer Platz, weil hier auch Holz gelagert wurde, weil hier früher eine kleine Sägemühle war für den Eigenbedarf. Plötzlich kamen dort mehrere Soldaten. Es waren Tschechen, ich verstand aber kein Tschechisch, ich habe nie Tschechisch gesprochen. Und riefen: In zwanzig Minuten alles fort. Daraufhin bin ich auch auf dem Grundstück hier verschwunden. Da komme ich nochmal darauf. Und es ging jetzt los: Was nehmen wir mit? So sagte das meine Mutti. Und da brachte meine Oma gleich einen Koffer. Der Koffer wurde so halb zertreten, Koffer durften nicht mitgenommen werden. Da wir aber Säcke in der Mühle hatten, war das kein Problem, dann wurden diese Sachen, aber was, weiß ich nicht, dort in diese Säcke gestopft. Die Säcke wurden sogar gewogen, sagte mein Bruder. Und als die Zeit dann so weit war, diese zwanzig Minuten, dann fiel allen erst auf, dass ich gar nicht da war. Aber ich war nicht weit, ich war hier auf dem Grundstück, ich habe meine Katze gesucht, weil die auch mit sollte. Dann wurden wir alle auf diesen Anhänger aufgeladen."
"Die einzige, die sich indirekt schon vorbereitet hatte, war meine Schwester. Die ging aufs Gymnasium nach Kaaden und hatte ihre Schulbücher, und mit großem Stolz zwei Füllfederhalter. Diese Füllfederhalter hat sie geliebt. Und sie hat aus diesem Grunde ihre Puppe, das war diese Zelluloidpuppe, wie sie es damals üblich war. Sie hat sie so oft angezogen, dass sie diese zwei Füllhalter dort verstecken konnte. Sie hat sie in ihre Tasche getan, sagte meine Oma. Aber die Tasche ging dann nicht mehr zu, weil sie dann ihre Bücher mitgenommen. Sie war diejenige, die am meisten sich vorher schon damit beschäftigt hat. Und da hat sie mir die Puppe in den Arm gedrückt, und mit dem Federbett – zwei Federbetten für sechs Mann – dort ging diese Puppe mit nach Kaaden. Denn sonst durften wir kein Spielzeug, keine persönliche Sachen, eigentlich gar nichts mitnehmen. Wir hatten eine Milchkanne, da holte meine Schwester das suppenähnliche Essen, dort im Lager im Brunnersdorf. Und wir hatten ein Besteck, das wir viele, viele Jahre aufgehoben haben, wie es die Soldaten im Krieg hatten, wo Messer, Gabel und Löffel ineinander gesteckt waren. Einen Essenträger von meinem Vater noch von der Armeezeit, 2-3 Töpfchen, was weiß ich, das was man eben in dieser Eile einpackt. Wir hatten weder eine Geburtsurkunde, wir hatten keine Fotos. Wir hatten eigentlich in der Schnelligkeit nichts, was notwendig gewesen wäre."
"Und dan, in welcher Zeit, weiß ich nicht genau, wurden deutsche Bauern verpflichtet, die noch in ihren Gütern wohnten, die Deutschen so schnell wir möglich an die Grenze zu bringen. An die sächsische, mit Fuhrwerken. Die wenigen Sachen waren ja schnell wieder aufgeladen, und so konnten wir wieder zu sechst durch diese Freundin Frau Lappert, dort wieder gehen. Also mussten fort. Ob wir gelaufen sind oder drauf sassen weiß ich nicht mehr. Und kamen nach Christoph Hammer, das war ein kleiner Ortsteil in der Nähe von Schmalzgrube an der sächsischen Grenze. Dort kamen wir auf die kleine Spurbahn und wurden bis Weidenstein gefahren. In Weidenstein mussten wir umsteigen auf offene Güterwagen. Ich hatte ja wahrscheinlich Glück, ich sass so gut wie immer in dieser Zeit auf meinem Sportwagen. Inzwischen war ich ja vier Jahre alt geworden, aber ich durfte dort sitzen, weil das gleichzeitig als Transportmittel diente. Ich konnte bestimmt auch gut schlafen, meine Geschwister erzählten beide, dass dort ein Funkenflug war und das das eine Federbett ganz angebrannt wäre. Und wir hatten diese bedien Federbetten mindestens noch zwei Jahrzehnte. Es waren sogar die eigenen Federn hier von unseren Gänsen.
"Ja, das habe ich vergessen zu sagen. Meine Mutti war einige Male, und schon vor der Wende war das Treffen der Sudetendeutschen von Warta. Das war immer am Fronleichnahm, meine Mutti als Rentnerin konnte schon, aber wir konnten auch nicht da gehen. Das war immer Sonnabends danach. Aber noch vor der Wende haben da die Bayerischen, die meisten sind nach Bayern gekommen, und die haben gespendet und haben damals die Kirche innen und aussen restaurieren lassen. Und dort hatten wir dann auch Gottesdienst. Als wir später ein Auto hatten, da waren wir auch 6-7 mal auch dabei. Wäre ich schon so motiviert gewesen wie jetzt, hätte ich das wahrscheinlich mal organisiert. Denn es sind ja mehrere Nachfolger da, die auch Interesse hatten. Aber damals hatte ich viel Arbeit, mein Mann war sehr unterwegs, wir hatten immer einen Grund gefunden das nicht zu machen."
Ich habe meine Katze gesucht, damit sie mit uns zusammen in die Vertreibung gehen konnte
Gertrude Hoedt, geboren Glaser, wurde am 10. August 1941 in Warta (Stráži nad Ohří) in einem Mühlwerk geboren, welches ihren Eltern gehörte. Ihr Großvater hatte es repariert und ihr Vater schließlich modernisiert. In Warta erlebte sie noch ihre Kindergartenzeit, sah Kriegsgefangene, die in der Mühle aushalfen und in der Bäckerei dann sogar auch den kurzen Aufenthalt sowjetischer Soldaten.
Am 26. Juli 1945 wurde sie Opfer der sogenannten wilden Vertreibung, bei der die Familie nicht einmal mehr ihre Geburtsurkunden einpacken konnte. In Kaaden (Kadaň) wurde ihr Vater festgenommen, der Rest der Familie wanderte weiter nach Brunnersdorf (Prunéřov). Nach einigen Wochen wurden sie von Fuhrwerken an die sächsische Grenze gebracht, mit dem Zug sind sie schließlich in Chemnitz angekommen. Stück für Stück bewegten sie sich von Gemeinde zu Gemeinde nahe der Grenze und hofften, dass sie bald zurückkehren dürften. Im März 1946 zogen sie zum Vater in das Mühlwerk in Breitenbrunn, wo er in der Zwischenzeit angefangen hatte zu arbeiten. Der Vater baute später eine völlig neue Mühle in der Gemeinde Annaberg auf. Als das Mühlwerk im Jahr 1951 verstaatlicht wurde, zog der Vater nach Westdeutschland.
Die Kinder blieben zusammen mit der Mutter und Großmutter in der DDR, die Eltern ließen sich später scheiden. Gertrude Hoedt wurde Lehrerin und heiratete im Jahr 1967. Sie hat drei Kinder und sieben Enkelkinder, mit denen sie oft nach Tschechien fährt und interessiert sich für ihre Familienwurzeln. Das Interview für Paměť národa hat sie uns direkt in ihrer Geburts-Mühle gegeben, wohin sie von dem jetzigen tschechischen Eigentümer eingeladen wurde.
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