Ja, selbstverständlich, ich stand ja neben ihm auf dem Balkon an diesem Abend. Man muss eines dazu sagen. Viele Millionen Menschen sehen auch heute noch immer wieder mal diesen berühmten Halbsatz, weil der Rest dieses Satzes natürlich in dem fünftausendfachen Jubel der Menschen, der Zufluchtssuchenden da unten im Garten, untergegangen ist. Aber in der Wirklichkeit war es so, dass Hans Dietrich Genscher über eine halbe Stunde da gesprochen hat und dass auch in dieser Zeit schon bestimmte Schlüsselsätze gefallen sind, die die Leute da unten im Garten schon ahnen ließen, dass es nun endlich tatsächlich so weit ist. Er hat die Menschen zum Beispiel begrüßt, in dem er sagte: „Im Namen der Bundesrepublik begrüße ich Sie als Deutsche unter Deutschen.“ Und das war ein absoluter Schlüsselsatz. Ihr gehört zu uns, wir gehören zusammen. Es wurden halt viele Aussagen getroffen da an dem Abend und dann eben so im ersten Drittel seiner Rede der Satz: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen um euch mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise möglich wurde.“ Und dieses „möglich wurde“, das ging in einem tausendfachen Jubel unter, das man im ganzen Prag, glaube ich, gehört hat.
Ich war vielleicht noch zwanzig, dreißig Meter von dem großen Haupttor entfernt, als der eine Polizist seine Zigarette ausdrückte. Und ich meine heute noch zu sehen, dass er so ein, zwei Schritte in meine Richtung machte. Das war für mich das Startsignal. Ich musste unbedingt und auf alle Fälle verhindern, dass er mich aufhält und nach Papieren fragt. Deswegen war es genau das Zeichen, dass es gebraucht hat, dass ich starte. Ich bin losgesprintet. Dieses große Eingangstor von der Botschaft hätte auch zu sein können und es hätte mich gar nichts genutzt! Ich bin trotzdem losgesprintet und bin zu dem Eingang gegangen und tatsächlich war das Tor offen und ich konnte reinrennen in den großen Torbogen, der da ist. Ich habe mich nicht umgedreht, ob der Polizist in meine Richtung gegangen ist oder stehen geblieben ist, weil ich nicht hundertprozentig wusste, ob er vielleicht dort reinkommen kann und mich dort rausholen. Ich habe an die Scheibe von der Pförtnerloge geklopft und habe da reingerufen: „Ich bin der Herr Bürger, ich komme aus der DDR und ich gehe jetzt nicht wieder raus!“
Es war natürlich sehr schwierig. Ein illegales Verlassen der DDR war mit dem Risiko Tot verbunden, dessen musste man sich wirklich klar sein. Die DDR war in der Tat, heute weiß man das auch anhand der –zig Kilometer Aktenmaterial, die jetzt noch in Berlin liegen, die DDR war ein großes Gefängnis. Und man hatte kaum irgendeine Möglichkeit, dieses Land irgendwie zu verlassen. Es gab viele Fluchtversuche, es gab viele Menschen, die an der innendeutschen Grenze gestorben sind bei ihren Fluchtversuchen.
Das Problem war natürlich in dem Moment, wo ich meinen ersten Antrag gestellt hatte, dass sie sofort wussten: „Ja, das ist einer, der unseren sozialistischen Staat verlassen will, der uns verraten will, der sich hingezogen fühlt zu dem kapitalistischen System in der Bundesrepublik!“ Und somit war ich natürlich ab dem Moment auch offiziell als Staatsfeind abgestempelt und das hat man mich auch spüren lassen.
Ich musste aber feststellen, dass die Machthaber in der DDR jeden kritischen Geist dermaßen schlimm sanktioniert haben und denen dazu jedes Mittel recht war, dass ich für mein weiteres Leben in der DDR mich selbstbestimmt entwickeln zu dürfen absolut keine Chance mehr gesehen habe und keine Perspektive vor allen Dingen, dass sich das vielleicht mal bessern könnte. Und aus diesem Grund habe ich irgendwann 1984 den Entschluss gefasst, dass ich versuchen werde, die DDR auf legalem Weg, also durch einen Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR (zu verlassen) und mein Leben dort zu beenden und anderweitig mein Glück zu suchen um mich persönlich entwickeln zu können. Und das wollte ich eben in der Bundesrepublik. Und ich habe aufgrund dessen den ersten Antrag gestellt, der allerdings unbegründet abgelehnt worden ist.
Die DDR war ein einzig großes Gefängnis, der Eiserne Vorhang fiel in Prag
Christian Bürger wurde am 31. März 1956 in Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt) in der Deutschen Demokarischen Republik geboren. Die Mutter war eine Nachkriegsvertriebene aus Schlesien, die auf dem Gebiet der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone Deutschlands ausgesetzt wurde. Christian trat nicht den Jugendorganisationen und auch nicht der Kommunistischen Partei bei und durfte deshalb nicht studieren. Er war in den oppositionellen christlichen Gruppen aktiv. Im Jahr 1984 beantragte er die offizielle Ausreise aus der DDR, die aber ohne Erklärung abgelehnt wurde. Durch die Beantragung der Ausreise wurde er in der DDR zum „Staatsfeind“ und musste sich regelmäßig zweimal wöchentlich bei den Behörden melden, wo er verhört wurde. Zusammen mit zwei guten Freunden wollte er das Land illegal über die Tschechoslowakei verlassen. Im Februar 1986 wurde er aber festgenommen und verbrachte ein halbes Jahr im Gefängnis in einer Einzelzelle. Es verriet ihn einer seiner Freunde, mit denen er die Flucht geplant hatte. Er wurde zu drei Jahren Haft in Cottbus verurteilt. Nach einundhalb Jahren wurde er aufgrund einer Amnestie, die sich die BRD für den Tausch eines Kredits ausbedingte, freigelassen, war aber für weitere drei Jahre unter gerichtlicher Überwachung und besaß keinen Personalausweis.
Wieder musste er sich zu Verhören melden, er war unter der Bewachung der Stasi und musste untergeordnete Arbeit verrichten. Im Frühling 1989 hörte er in einer Nachrichtensendung eine negative Bemerkung über die ersten DDR-Flüchtlinge an der Prager Botschaft und ließ sich inspirieren. Die Grenze der ČSSR musste er in einer Juninacht illegal überqueren, er hatte keine Dokumente dabei. Das Gebäude der Botschaft in Prag fand er nur dank westdeutscher Touristen, denn auf der Karte war sie nicht aufgezeichnet. Er gehörte zu den ersten ca. vierzig ankommenden Flüchtlingen an der Botschaft, er beteiligte sich an der Organisation und dem Aufbau eine Zeltlagers und wurde zu einem gewissen Sprecher der Geflüchteten. Am 30. September stand er beim Besuch des damaligen Außenministers der BRD Hans-Dietrich Genscher in Prag, hinter ihm auf dem Balkon, als er verkündet hatte, dass die Geflüchteten in die BRD ausreisen dürfen. Die DDR erlaubte die Ausreise nach internationalem Druck, aber nicht direkt über die ČSSR, sondern über das DDR-Gebiet. Die Flüchtlinge wurden von der Botschaft aus zum Bahnhof Prag Libeň von ausgesendeten Bussen aus der DDR gebracht, sie wurden dann von ostdeutschen Zügen über leere Bahnhöfe bis nach Hof in der BRD gebracht, wo sie von jubelnden Menschenmengen begrüßt wurden.
Nach ein paar Tagen erhielt Bürger eine Arbeitsstelle in einer Gaststätte und stieg bald in eine Führungsposition auf, er bildete sich weiter und reiste und arbeitete im Ausland – die Flucht und der anschließende Fall des Eisernen Vorhangs eröffneten ihm neue Möglichkeiten.
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